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20. Okt 2021
Am ersten Abend der St. Gabrieler Vortragsreihe 2021/2022 begeisterte Pater Michael Kreuzer SVD die Zuhörer*innen für sein Lieblingsbuch – die Bibel.
Das „Narrativ“ oder die „Erzählung“ ist in den letzten Jahren ein Modewort geworden: Kaum eine politische Partei oder Bewegung kommt ohne diesen Begriff aus. Doch meist wird darunter nur ein werbewirksamer Slogan verstanden. „Meiner Meinung nach hat die Kirche die beste aller Erzählungen, eine, diesen Namen wirklich verdient: die biblische Erzählung“, stellte Pater Michael Kreuzer SVD bei seinem Vortrag am 19.10.2021 im Rahmen der St. Gabrieler Vortragsreihe „Wofür ich brenne“ klar.
Die „biblische Erzählung“ sei eine Geschichte, die Menschen begeistern und in Bewegung bringen kann, die Identität und Sinn stifte – „wirklich tragfähigen Sinn, für den es sich zu leben lohnt“. Umso mehr bedauert der Bibelwissenschaftler und Bibelkoordinator der Mitteleuropäischen Provinz der Gesellschaft des Göttlichen Wortes, dass die Kirche die beste aller Erzählungen nicht erzählt – zumindest ihren alttestamentlichen Teil nicht. Die „biblische Erzählung“ komme im Leben der Kirche kaum vor. In der Sonntagsleseordnung höre das Volk Gottes innerhalb von drei Jahren zwar die vier Evangelien von vorne bis hinten – hier habe die Liturgiereform des II. Vaticanum eine „wirklich glückliche Hand“ gehabt. Ganz anders sehe es bei den alttestamentlichen Lesungen aus, die passend zur jeweiligen Evangeliumsstelle ausgewählt wurden und nicht fortlaufend gelesen werden. Kreuzer würde sich wünschen, dass alle Gläubigen in einem dreijährigen Zyklus in den Gottesdiensten die ganze biblische Geschichte hören. Das Wissen um die alttestamentliche Geschichte Israels sei auch unerlässlich für das Verständnis Jesu. Nur wer die „Vorgeschichte Jesu“, die „biblische Erzählung“ kenne, dem werde klar, dass Jesus unter dem Reich Gottes kein „jenseitiges Himmelreich“, sondern eine „irdische Größe“ verstehe. „Das Reich Gottes wird nie Wirklichkeit, wenn es keine Menschen gibt, die an diese Utopie glauben“, betonte Michael Kreuzer. Für den Steyler Missionar resultiert daraus ein politischer und sozialer Auftrag der Kirche, der „genuin in ihren religiösen Auftrag hineingehört und nicht von ihm als ‚uneigentlich‘ abgespalten werden darf!“
Unter der „biblischen Erzählung“ versteht der Bibelwissenschaftler die Gründungslegende Israels, die Geschichte seines Versagens und die prophetische Heilserwartung. Nach Erkenntnissen der modernen Bibelwissenschaft war „vermutlich“ die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 587 v. Chr. die Geburtsstunde der Bibel. „Schon davor gab es diverse Schriften, aber erst jetzt wurde der Entschluss gefasst, sie zusammenzufassen und in einen großen Erzählzusammenhang zu stellen“, erklärte Kreuzer. Die Hypothese der modernen Bibelwissenschaft über die Entstehung der Bibel sei wichtig, um das Wesen der biblischen Literatur zu verstehen: „Die Bibel ist kein historischer Bericht.“ Pater Kreuzer unterstrich, dass ihm erst die Erkenntnisse der modernen Bibelwissenschaft einen Zugang zur Bibel ermöglicht hätten. „Die Naivität des mittelalterlichen Menschen, dass ‚alles so war, wie es geschrieben steht‘, könne er unmöglich teilen. „Die moderne Bibelexegese ist für mich unverzichtbar. Sie ist ein großes Geschenk an unsere Zeit.“
Die Bibel „brenne“ für das Reich Gottes, das mehr sei als menschliche Hoffnung und Utopie, nämlich „göttliche Verheißung“. Durch ihre Erzählungen schaffe es die Bibel, dass wir als Zeugen „mit dabei, mitten drin“ seien. „Die Bibel ist eindeutig mein Lieblingsbuch. Ihre Botschaft weiterzusagen, bereitet mir große Freude“, bekannte Pater Kreuzer in seinem Vortrag. Er träume von einer Kirche, die tief in der „biblischen Erzählung“ und biblischen Hoffnung verwurzelt ist. Die Verwirklichung dieses Wunsches sieht der Steyler Missionar in wöchentlichen Bibelrunden. Bibelrunden könnten in Zukunft an Bedeutung gewinnen, wenn aufgrund des Priestermangels Eucharistiefeiern nicht mehr an jedem Ort und an jedem Sonntag möglich seien. „In Hinkunft werden die wöchentlichen Bibelrunden zu ‚Keimzellen‘ der Kirche, zu ihren kleinsten Einheiten“, meinte Pater Kreuzer. „Die Kirche wird sich aus lauter Bibelrunden aufbauen. Und das ist gut so!“
Rund 60 Zuhörerinnen und Zuhörer ließen sich die spannenden Ausführungen von Pater Kreuzer im Festsaal des GABRIUM nicht entgehen. Darunter viele Menschen aus den Pfarren Südstadt und Hinterbrühl, in denen der Steyler Missionar als Kaplan tätig ist, sowie Mitbrüder und Steyler Schwestern. „Michael Kreuzer versteht es, andere mit seiner Leidenschaft für die Bibel anzustecken und für das Wort Gottes zu begeistern“, stellte Pater Franz Helm SVD fest. Der Rektor des Missionshauses St. Gabriel freute sich, dass nach den Corona bedingten Absagen im Vorjahr die St. Gabrieler Vortragsreihe nun unter Einhaltung der aktuellen Corona-Bestimmungen wieder stattfinden kann. Mit "3 G" – Gesprächen, Getränken und einem „Gruß aus der Küche“ des GABRIUM – klang der Abend aus.
Fotos: Franz Helm SVD, Franz Pilz SVD