Gusinde: Frühwerk verdient Respekt und Anerkennung

AT

16. Okt 2024

Der Ethnologe und Sozialanthropologe Andre Gingrich sprach in einem Vortrag über bleibende Verdienste des Steyler Missionars und Ethnologen P. Martin Gusinde.

Gusinde: Frühwerk verdient Respekt und Anerkennung

Martin Gusindes Sympathie mit den Indigenen von Tierra del Fuego (Feuerland) und seine Stellungnahme gegen die koloniale Expansion und Präsenz ist aus biografischer und wissenschaftshistorischer Sicht ein bleibendes Verdienst des Forschers und Steyler Missionars. Das betonte der Ethnologe und Sozialanthropologe Andre Gingrich von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bei einem Vortrag am 15.10.2024 im Missionshaus St. Gabriel. Erst diese Empathie mit den Indigenen habe ihn zu „einem der ihren“ gemacht. „Ohne diese grundlegende Akzeptanz durch eine kulturelle Minderheit, die bereits damals um ihr Überleben kämpfte, wären die Leistungen Gusindes auf Feuerland nicht nachvollziehbar“, ist Gingrich überzeugt. „Gerade in seinem Frühwerk brachte er jene ethisch korrekte, adäquate menschliche Grundeinstellung mit, welche diese große wissenschaftliche Leistung überhaupt erst möglich machte.“
Im Mittelpunkt des Vortrags stand das Frühwerk Martin Gusindes: Zwischen 1918 und 1924 erforschte der Ethnologe auf vier Reisen die indigenen Gruppen der Selk‘nam, Yagan und Kawésqar in dem auf Deutsch oft als „Feuerland“ bezeichneten Insel-Archipel an der äußersten Südspitze Südamerikas. Aus Gingrichs Sicht als Sozial- und Kulturanthropologe und Ethnologe sei es der „überwiegende Gesamtertrag dieses Frühwerks von Pater Martin Gusinde, der auch aus heutiger Sicht Respekt und Anerkennung verdient“.
Andre Gingrich ging in seinen Ausführungen auch darauf ein, warum diese Anerkennung nur auf den ersten Blick „selbstverständlich“ sei und führte dafür mehrere Gründe an. Etwa Gusindes Anbiederung an das NS-Regime und seine umstrittene ordensinterne Rolle in der „Societas Verbi Divini“ (SVD). „In wichtigen Teilbereichen hat Gusinde vor allem ab 1938 nicht nur der SVD und der katholischen Kirche, sondern auch dem Ansehen der Wissenschaften und unserem Land keine guten Dienste erwiesen“, ist Andre Gingrich überzeugt. Bei aller berechtigter Kritik sei es notwendig, sich „ausgewogen und nüchtern“ ebenso mit allen anderen Aspekten der Werksgeschichte zu befassen. Es gelte die Verhältnismäßigkeit zu bewahren, denn Gusinde sei zwar wie andere auch Sympathisant, Werkzeug und Nutznießer eines mörderischen Regimes gewesen, „aber er wurde nie zum Kriminellen“.

Der Ethnologe und Kultur-und Sozialanthropologe Andre Gingrich meint, dass Martin  Gusindes Frühwerk Respekt und Anerkennung verdient.
Der Ethnologe und Kultur-und Sozialanthropologe Andre Gingrich meint, dass Martin
Gusindes Frühwerk Respekt und Anerkennung verdient.

Interesse an Humanbiologe warf Fragen auf

Ein Aspekt von Gusindes späteren ordensinternen Auseinandersetzungen hing laut Prof. Gingrich mit seinem lebenslangen Interesse an Humanbiologe bzw. „physischer Anthropologie“ zusammen, die damals zunehmend in das Feld der sogenannten „Rassenkunde“ und „Rassenforschung“ geriet. Vor allem das Vermessen und damit verbunden die Berührung seiner unbekleideten Probandinnen und Probanden habe innerhalb des Ordens viele Fragen aufgeworfen.
Nach Gingrichs Ansicht ist das Interesse Gusindes an der Körperlichkeit von Indigenen in seiner Kindheit begründet, wo er schon als Volksschüler in Breslau von sogenannten „Völkerschauen“ fasziniert gewesen sei. Dort wurden indigene Menschen aus Afrika, Asien, Ozeanien, Nord- und Südamerika in einem entwürdigenden Spektakel halbnackt zur Schau gestellt. Auf seine Frage, wie er denn jene Weltgegenden besuchen könnte, in denen solche Indigenen lebten, habe ihm sein Religionslehrer eine Ausbildung zum Missionar empfohlen. „Wenn man es also zugespitzt formulieren will, dann ging Gusindes kindliches Interesse an der leiblichen Präsenz indigener Menschen seinem überzeugten Engagement als Priester und Ethnologe eigentlich zeitlich und sogar ursächlich voraus“, so Gingrich.
Auch die Tatsache, dass Gusinde während des 1. Weltkriegs in Chile als Autodidakt völlig auf sich allein gestellt war und keinen Kontakt mit den Mitbrüdern in St. Gabriel hatte, habe Gusindes Begeisterung für die Humanbiologie gefördert.
Während die empirischen und dokumentarischen Erträge seiner Forschungsreisen nach Feuerland die Zeiten überdauert haben, sind die theoretischen Ergebnisse Gusindes in Bezug auf einen Hochgottglauben bei den von ihm besuchten indigenen Völkern, die die Urmonotheismus-Theorie von P. Wilhelm Schmidt beweisen sollten, eher umstritten.

P. Martin Gusinde SVD (links) teilte das Leben der indigenen Feuerland-Völker und nahm an Stammeszeremonien teil. Im Bild mit P. Wilhelm Koppers SVD (rechts) bei der Jugendweihe der Yamana im Jahr 1922
P. Martin Gusinde SVD (links) teilte das Leben der indigenen Feuerland-Völker und nahm an Stammeszeremonien teil. Im Bild mit P. Wilhelm Koppers SVD (rechts) bei der Jugendweihe der Yamana im Jahr 1922

Objekte und Fotos sind von unschätzbarem Wert

Das wissenschaftliche Vermächtnis von Martin Gusindes Feuerland-Aufenthalten umfasst nach den Worten von Prof. Gingrich drei Hauptkomponenten von bleibender Gültigkeit: Erstens seine ethnographischen und humanbiologischen Studien in Form von Büchern und Artikeln zu den Indigenen, ihren Kulturen und Lebensweisen. Zweitens seine bedeutenden sprachwissenschaftlichen Dokumentationen und Analysen und, drittens, Gusindes umfangreiche Sammlungen von Objekten und Fotos aus Tierra del Fuego (sie werden u.a. auch in St. Gabriel aufbewahrt), die sowohl für Lateinamerika als auch global von größtem Interesse sind. Diese Objekte seien von „unschätzbarem Wert“, wie Gingrich unterstreicht. Einerseits, weil der Forschung nichts anderes aus dieser Zeit zur Verfügung stünde. Und außerdem, weil die vom Aussterben bedrohten indigenen Gemeinschaften es Martin Gusinde verdankten, dass wenigstens diese Zeugnisse eines reichhaltigen kulturellen und menschlichen Erbes der Nachwelt erhalten werden konnten.
In seinem Vortrag ließ Andre Gingrich auch P. Martin Gusinde selbst zu Wort kommen. In einem Interview, das der Steyler Missionar 1968, ein Jahr vor seinem Tod, dem Österreichischen Rundfunk gegeben hat, spricht er auch ausführlich über seine Forschungsreisen zu den Feuerland-Völkern. Das historische Tondokument ist in der Österreichischen Mediathek abrufbar.

P. Franz Helm SVD präsentierte die Themen der St. Gabrieler Vortragsreihe im Jubiläumsjahr der Steyler Missionare.
P. Franz Helm SVD präsentierte die Themen der St. Gabrieler Vortragsreihe im Jubiläumsjahr der Steyler Missionare.

Lange Tradition der Ethnologie in St. Gabriel

Der Vortrag von Prof. Andre Gingrich bildete den Auftakt zur St. Gabrieler Vortragsreihe 2024/25, die den Titel „Euer Licht soll vor den Menschen leuchten (Mt 5,16)“ trägt. Die fünf Abende stehen im Zeichen des 150-Jahr-Jubiläums der "Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ und widmen sich Themen, die den Steyler Missionaren seit ihrer Gründung wichtig waren: Erforschung der Völker und Kulturen, Schöpfungsverantwortung, Gerechtigkeit und Frieden, interreligiöser Dialog, Pfarr- und Bibelpastoral.
P. Franz Helm SVD ging in seinen Begrüßungsworten auf die lange Tradition der Ethnologie in St. Gabriel ein: Bereits gleich nach der Gründung des Missionshauses wurden die zukünftigen Missionare in Fächern wie Chemie, Zoologie, Botanik und Mineralogie unterrichtet. Ab 1900 bot P. Wilhem Schmidt Vorlesungen in Völkerkunde an. 1906 erschien erstmals die wissenschaftliche Zeitschrift „Anthropos“, die auch heute noch vom gleichnamigen Institut in St. Augustin bei Bonn herausgegeben wird. Später regte Wilhelm Schmidt Steyler Missionare wie Martin Gusinde, Wilhelm Koppers und Paul Schebesta zu Expeditionen und Forschungsreisen in verschiedene Erdteile an.
Noch bis 15. November ist im Missionshaus St. Gabriel die Ausstellung „Völkersterben?! – Nein, wir leben!!!“ zu sehen. Die Schau erinnert an die Feuerland-Expeditionen von Martin Gusinde vor 100 Jahren und die Situation der indigenen Communities heute.

Fotos: Franz Helm SVD

Zur Person

Andre Gingrich war von 1998 bis 2017 ordentlicher Professor am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Seit 2002 ist Gingrich wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Von 2007 bis 2019 war er Gründungsdirektor des Instituts für Sozialanthropologie der ÖAW.
Prof. Gingrich wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet (u.a. 2000 mit dem Wittgenstein Preis des Wissenschaftsfonds FWF) und ist u.a. Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften.

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