"Wo ist dein Bruder?"

03. Jan 2022

Gott fragt den Menschen (2): Gen 4,9

Gottesliebe und Nächstenliebe sind untrennbar miteinander verbunden. Wo die Gottesbeziehung nicht stimmt, kommt es auch zu zwischenmenschlichen Problemen. Schon in den ersten Texten der Bibel wird das deutlich.

"Wo ist dein Bruder?"

Warum ist das Leben nicht so paradiesisch wie wir es uns wünschen? Die Bibel diagnostiziert als Ursache eine grundlegend gestörte Beziehung der Menschen zu ihrem Schöpfer. Wir spüren, wie klein wir angesichts der Größe Gottes sind und haben Angst vor ihm. Die gestörte Gottesbeziehung hat Konsequenzen auch für die Beziehungen zwischen den Menschen. Das Misstrauen gegenüber Gott setzt sich im Misstrauen gegenüber den Mitmenschen fort. Davon erzählen die Urgeschichten im Buch Genesis. Mit wenigen Worten wird zunächst geschildert, dass das erste Menschenpaar zwei Söhne bekommt. Über ihre Kindheit und das Familienleben erfahren wir kein Wort. Sofort kommt die Bibel zur Sache: Zwischen den beiden Brüdern stimmt die Beziehung nicht, es ist so schlimm, dass der Ältere schließlich seinen jüngeren Bruder ermordet. Die Gewalt setzt sich auch in den nächsten Generationen fort. Gewalt und Gegengewalt prägen das menschliche Zusammenleben, so sehr, dass Gott eigentlich den Glauben an sein Geschöpf verlieren müsste. Das verbildlicht sehr anschaulich die Sintflutgeschichte (Gen Kap. 6-9). Sie mündet in ein Hoffnungsbild, den ersten Bundesschluss zwischen Gott und Menschen. Gott sichert zu, dass er es niemals sein wird, der die Menschen und die Welt zerstört.

Warum musste es überhaupt so weit kommen? Hätte Gott nicht bereits angesichts des ersten Brudermordes eingreifen müssen? Nun, die Bibel erzählt, dass Gott dem Geschehen nicht tatenlos gegenübersteht. Aber wieder, wie bereits bei Adam und Eva (vgl. Bibelwort im Januar 2022), besteht sein Eingreifen in der Einladung zu einem klärenden Gespräch und einer Erneuerung der Beziehung. „Wo ist dein Bruder?“ (Gen 4,9) fragt er Kain und als der ausweichend antwortet, stellt Gott eine Frage, die zeigt, dass er um alles weiß, was wir Menschen tun: „Was hast du getan?“

Es sind Fragen, die Gott auch allen Menschen stellt, die sich im Gebet an ihn wenden. Man kann zu Gott nicht in Beziehung treten und dabei die Beziehung zu den Mitmenschen einfach ausblenden. „Wo ist dein Bruder?“, fragt uns Gott. Auch wenn wir keine Mörder sind, dürfen wir nicht genauso ausweichend antworten wie Kain es tat: „Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9). Wissen wir wirklich nicht, wie es unseren Schwestern und Brüdern geht? Durch Internet und Fernsehen werden wir tagtäglich darüber unterrichtet, wie Menschen mit Menschen umgehen. Das Elend und Leid unserer Mitmenschen darf uns nicht egal sein. Wir sind einander als Hüter bestellt. Und ich vermute, dass Gott uns auch nach unserem Umgang mit unseren Mitgeschöpfen fragt. „Wo sind die Vögel geblieben? Wo die Insekten? Wo die Fische im Meer? Was hast du getan, Mensch?“

Mich beeindruckt, dass in der biblischen Erzählung der Mörder nicht einfach verurteilt und bestraft wird. So gehen wir Menschen miteinander um. Gott handelt anders. Er macht Kain ein Schutzzeichen, das ihn davor bewahren soll, selbst Opfer menschlicher Gewalt zu werden. Eine Heilung der gestörten Beziehung geschieht dadurch aber noch nicht. Sie beginnt dort, wo sich ein Mensch vertrauensvoll auf Gottes Wort einlässt, auch wenn es sein Begreifen übersteigt. Wie das geht, können wir an der Geschichte von Abraham und Sara sehen (Genesis Kap. 11ff). Trotz ihres Glaubens geht in ihrem Leben nicht alles glatt, da gibt es manche Einseitigkeiten, Irrtümer und Fehler. Und doch zeigen sie uns einen Weg, dem wir folgen können. „Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt“ (Röm 4,18), so stellt Paulus die vorbildliche Haltung Abrahams dar. Ja, es gibt Hoffnung. Auch für alle Adams und Evas und auch für Kain. Von Gottes Seite aus steht die Tür immer offen. „Wo ist dein Bruder, wo deine Schwester?“ fragt er uns, damit die gestörten Beziehungen heilen können.

Ralf Huning SVD

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