01. Dez 2023
Jesus fragt (12): Lk 2,49
Viele Menschen verlassen ihre Heimat, um in der Fremde ein besseres Leben zu finden. Andere bleiben zuhause, sind aber innerlich heimatlos.
„Wo gehen wir hin in diesem Leben? Immer nach Hause!“, lautet ein berühmter Aphorismus des Dichters Novalis (1772 - 1801). Das Problem ist nur: Viele Menschen wissen nicht, wo ihre wahre Heimat ist. Sie suchen Beheimatung in Genuss, Erfolg, Reichtum. Aber so viel sie auch davon erlangen, die Geborgenheit, die sie ersehnen, finden sie so nicht. Für einen Moment ist alles wunderbar, aber kurz danach machen sich die Menschen schon wieder auf die Suche. Irgend etwas fehlt noch. Sie spüren, sie sind noch lange nicht angekommen.
Es ist sicher kein Zufall, dass im Lukasevangelium das erste Wort Jesu von dem Wissen um seine wahre Heimat handelt. Schon als Kind war Jesus klar, wo er zuhause war. Im Lukasevangelium lesen wir nach den Weihnachtsgeschichten von einer Begebenheit, in der das offensichtlich wurde. Der zwölfjährige Jesus war mit seinen Eltern nach Jerusalem gepilgert. Nach den Feierlichkeiten zog die Pilgerschar wieder zurück nach Galiläa. Die Eltern, die Jesus bei seinen Verwandten und Nachbarn vermuteten, merkten erst nach einem Tag, dass Jesus nicht in der Pilgergruppe war. Sie kehrten nach Jerusalem zurück und fanden ihn schließlich nach dreitägiger Suche im Tempel. Die Eltern reagierten mit Staunen und Schmerz, als sie Jesus dort inmitten der gelehrten Männer entdeckten, die die Heiligen Schriften studierten. „Er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie voll Staunen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Jesus reagierte zu ihrer Verwunderung mit einer Gegenfrage: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Die Reaktion der Eltern können wir gut nachvollziehen: „Sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen gesagt hatte.“ (Lk 2,46-50)
Der Tempel aus Steinen wurden nicht zu der bevorzugten Wohnstätte Jesu. Der war verzichtbar. Er wusste, dass wir alle dazu berufen sind, lebendige Tempel zu sein. Unsere wahre Heimat finden wir in der vertrauensvollen Beziehung zum himmlischen Vater. Wer mit ihm eins ist, so wie Jesus und der Vater eins sind, der hat ein unzerstörbares Zuhause. Und der kann selbst ein Wohnort sein für Gott auf dieser Erde. In einem berühmten Gleichnis hat Jesus von der Entdeckung der wahren Heimat erzählt. Es ist die Geschichte vom Vater und den beiden Söhnen (vgl. Lk 15, 11-32). Der jüngere Sohn verlangt vom Vater das Erbe, weil er meint, nur außerhalb seiner Heimat, in Genuss und Völlerei das wahre Leben zu finden. Der andere bleibt zwar beim Vater, macht sich aber innerlich zum Sklaven und wartet schweigend auf den Tag, an dem er für seine Unterwürfigkeit belohnt werden würde. Beide erkennen nicht, dass das erfüllte Leben, nach dem sie sich sehnen, bereits da ist. Sie müssen nur bereit sein, es anzunehmen. „Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein.“ (Lk 15,31) So spricht der Vater zu seinem Sohn und auch zu uns, die wir alle seine Kinder sind. Wer das begreift, der kann auch seine Mitmenschen als Brüder und Schwestern annehmen und wird nicht verächtlich auf sie schauen, wie es der ältere Sohn im Gleichnis tat.
Schauen wir noch einmal auf die Kindheitsgeschichte Jesu. Drei Tage lang hatten die Eltern nach ihm gesucht. Nach seinem Tod war Jesus erneut drei Tage verschwunden. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Wer um seine Beheimatung weiß, kann ihn als Lebenden wiedererkennen. Wenn wir uns in die Mitte derer setzen, die die Heiligen Schriften studieren, wenn wir zuhören und Fragen stellen, so wie es der zwölfjährige Jesus tat, werden wir ihn mitten unter uns wiederfinden.
Ralf Huning SVD