„Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“

01. Apr 2023

Jesus fragt (4): Mk 3,33

Es gehört in unserer Kultur zu den Erziehungszielen, selbständig zu werden. Viele verlassen darum als Erwachsene ihre Familie. Doch die Sehnsucht nach Verbundenheit mit anderen bleibt.

„Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“

Wenn wir in der Bibel lesen, machen wir uns selten bewusst, wie sehr sich unser Denken und Fühlen von den Werten unterscheidet, die die Kulturen prägten, in denen die biblischen Schriften entstanden sind. Einer der größten Unterschiede zeigt sich beim Gemeinschaftsbezug. Wir leben in einer stark individualistischen Kultur, in der es für wertvoll angesehen wird, selbständig und unabhängig leben zu können. Die Bibel entstand dagegen in gemeinschaftsorientierten Kulturen. Die Familie gab Halt und Sicherheit, was in einer Welt ohne Sozialversicherung auch lebensnotwendig war. Sie prägte aber auch das eigene Denken und Fühlen in einer oft beengenden Weise.

Für die ersten Leserinnen und Leser der Evangelien muss Jesu Verhalten gegenüber der eigenen Familie schockierend gewesen sein. Bei dem Glauben, zu dem Jesus einlud, ging es nicht einfach um die Übernahme von gewissen Überzeugungen. Jesus erwartete vielmehr die Bereitschaft, „neu geboren zu werden“ (Joh 3,3). Diese Neugeburt schenkt auch eine neue familiäre Beheimatung. Was damit gemeint ist, wird in einer kleinen Erzählreihe im dritten und vierten Kapitel des Markusevangeliums anschaulich gemacht. Das zentrale Bild, das der Evangelist verwendet, ist das von „drinnen und draußen“. Wir kennen das von unseren Bezugsgruppen, sei es die eigene Familie, ein Freundeskreis oder eine politische Partei. „Wir“, das sind diejenigen die dazugehören, im Gegensatz zu „den anderen“, die draußen stehen.

Markus beginnt seine Erzählungen mit einer Hausszene. Jesus und die ersten Jünger waren „drinnen“ und zu ihnen kamen so viele Menschen, dass sie nicht einmal mehr essen konnten. Davon erzählte man auch seinen Angehörigen, die zu der Überzeugung kamen, Jesus wäre verrückt geworden (vgl. Mk 3,20f). Während sie noch auf dem Weg waren, um ihn gewaltsam nach Hause zu holen (in das „Drinnen“ ihrer Welt, mit ihren Werten und Regeln), ereignete sich ein heftiger Konflikt zwischen Jesus und einigen Schriftgelehrten. Diese erklärten ihn nicht nur für verrückt, sondern behaupteten, er wäre vom Teufel besessen. Mehr Ausgrenzung geht nicht mehr. Und das, obwohl sie doch sehen mussten, wie viel Gutes Jesus wirkte! Als Jesu Angehörige dann endlich da waren, blieben sie „draußen“ stehen und ließen Jesus herausrufen. „Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich“ (Mk 3,32), sagte man ihm. Jesus reagierte mit einer Frage und einer Klarstellung: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mk 3,33-35)

Eine neue Familie bildet sich um Jesus herum. Aber ganz automatisch gehört man nicht dazu. Man muss den „Willen Gottes“ tun. Wann weiß man aber, dass man das wirklich gemacht hat? Davon erzählt Jesus direkt im Anschluss in dem berühmten Gleichnis vom Sämann, der ganz großzügig seinen Samen ausstreut (vgl. Mk 4,1-9). Vieles gefährdet das Wachstum. Nur wo der Samen in guten Boden fällt, kann er wachsen und Frucht bringen. An den Früchten im eigenen Leben lässt sich erkennen, ob man wirklich Gottes Willen getan hat. Nur in wessen Leben Gottes- und Nächstenliebe wachsen und nicht Sorgen, Habsucht und Gier, ist wirklich neu geboren worden durch Jesu Wort (vgl. Mk 4,13-20).

Die Jüngerinnen und Jünger, die Jesu Ruf folgen, sind „drinnen“ und haben die besten Voraussetzungen für diese Neugeburt. Aber sie geschieht nicht automatisch, nur durch die Nähe zu Jesus. Davon erzählt das Markusevangelium in den folgenden Kapiteln. Obwohl die ersten Jünger Jesus so nahe stehen, sind ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten immer noch von den Werten geprägt, die „draußen“ gelten: Sie haben Augen und sehen doch nicht, Ohren und hören doch nicht (vgl. Mk 4,12 und 8,18). Erst durch Tod und Auferstehung Jesu gehen ihnen die Augen auf und sie stehen auf zu einem neuen Leben. Wir sollten also nicht meinen, die geistliche Neugeburt wäre leicht zu schaffen. Nur wer mit liebendem Herzen Jesu Worte in sich aufnimmt und beständig in sich wachsen lässt, wird verwandelt. Wer „die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen“ (1 Joh 4,16) hat, wird Kind Gottes, gehört zu Jesu Familie. Doch trotz dieser neuen Zugehörigkeit sind die „anderen“ nicht länger Menschen, die „draußen“ bleiben sollen. Wer mit den Augen göttlicher Liebe sehen gelernt hat, erkennt in allen Menschen seine Schwestern und Brüder.

Ralf Huning SVD

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