12. Aug 2024
Psalm 76
Psalm 76 feiert in mythischen Bildern den Weltenkönig, der von seinem Götterberg Zion aus das Chaos, insbesondere den Krieg zwischen den Völkern und die soziale Ungerechtigkeit gegen die Armen, bekämpft.
Psalm 76
2 Kundgetan hat sich Gott in Juda,
in Israel ist groß sein Name.
3 In Salem erstand sein Versteck,
sein Lagerplatz auf dem Zion.
4 Dort zerbrach er die Brandpfeile,
Schild und Schwert, die Waffen des Krieges.
5 Strahlend von Licht erscheinst du,
majestätisch über dem Raubgebirge.
6 Ausgeplündert sind die tapferen Krieger,
sie sanken hin in den Schlaf,
allen Helden versagten die Hände.
7 Vor deinem Drohen, Gott Jakobs,
erstarrten Wagen und Rosse.
8 Furchtbar bist du.
Wer kann bestehen vor deinem Zorngesicht?
9 Vom Himmel her ließest du das Urteil hören,
die Erde erschrak und verstummte,
10 da Gott sich erhob zum Gericht,
um alle Armen der Erde zu retten.
Die ersten drei Strophen, die hier abgedruckt sind (die vierte lasse ich weg), beginnen mit einem betont vorangestellten Partizip, das Gott beschreibt (wobei die drei Partizipien noch dazu im Hebräischen sehr ähnlich klingen).
„Kundgetan hat sich Gott in Juda“ – der Satz hat zwei Betonungen, am Anfang und am Ende. Gott hat sich gezeigt, offenbart, vorgestellt, in Erfahrung gebracht, mit seinem Namen (= Wesen) – und zwar in Juda, in (Jeru-)Salem, auf dem Zion, wo er Wohnung genommen hat. Hinter Vers 3 steht das Bild von Gott als dem Löwen, deshalb die eigentümliche Wahl der Worte „Versteck“ und „Lagerplatz“ für den Tempel. Der „König der Tiere“ prägte die altorientalische Bildwelt wegen seiner außerordentlichen Kraft und Wildheit, seiner kriegerischen Tapferkeit, seinem Angst einflößenden Gebrüll und nicht zuletzt seiner männlichen Mähne. Götter und Könige wurden so dargestellt. Mit der Aggressivität eines Löwen zerstört Gott „dort“ die Kriegswaffen und setzt er den Kriegen ein Ende. Darin besteht seine Wesensoffenbarung.
Die 2. Strophe schließt ganz eng an die erste an. Gott erscheint – „strahlend“ wie die aufgehende Sonne. In Fortführung der Löwenmetaphorik wird der Zion „Raubgebirge“ genannt. Geschildert wird die überlegene Kriegsführung Gottes. Genau genommen kommt es gar nicht zum Kampf. Der „Gottesschrecken“ legt die Infanterie lahm und setzt die von Schlachtrossen gezogenen, bemannten Streitwagen, das modernste und gefürchtetste Kriegsarsenal jener Zeit, außer Gefecht.
Die 3. Strophe entwickelt das Bild vom „heiligen Krieg gegen den Krieg“ weiter zum Bild vom „heiligen Zorn gegen die Ungerechtigkeit“. Der Gotteszorn ist Ausdruck seiner Leidenschaftlichkeit, mit der er Partei ergreift für die Armen. Wie eine Löwin ihre Jungen verteidigt, so Gott die Seinen. Er bekämpft nicht nur den Krieg, sondern auch das himmelschreiende Unrecht, das den Armen zugefügt wird, – und zwar weltweit. Das Gericht ist „Rettung“ der Armen. „Furchtbar“ ist das Gericht Gottes, jedoch: Nur die Reichen brauchen sich davor zu fürchten, für die Armen ist es Gegenstand der Hoffnung, weil es ihnen Recht verschafft.
Dem Psalm 76 wohnt eine Widersprüchlichkeit inne: Ein Kriegergott stiftet Frieden. „Hoffen auf die Gewalt Gottes“ könnte man den Psalm überschreiben. Wen die unge-heure Gewalt, die Menschen gegen Menschen entfesseln, zornig macht, den werden solche Bilder aber tiefe Befriedigung verschaffen. Selbst Menschen, die nicht an Gott glauben, wünschten sich so einen zornig dreinfahrenden Gott. An einen solchen Gott könnten sie glauben, sagen sie. „Wo bleibt denn Gott?“ fragen sie ohne Unterlass. Ein Löwengebrüll vom Himmel her wäre tatsächlich angemessen. Dem himmelschreienden Unrecht immer nur das Bild vom gekreuzigten Christus entgegenzusetzen und dabei eine weinerliche Duldermiene aufzusetzen ist auch nicht richtig. Unsere Seele braucht diese kräftigen und deftigen Bilder, um nicht nur immer „hinunterschlucken“ zu müssen.
Ich kann nur stets wiederholen: Die Psalmen sind nicht für biedere Wohlstandsbürger geschrieben. Die viel gescholtenen „Rachepsalmen“ des AT sind für Menschen geschrieben, denen entsetzliches Unrecht und Leid angetan und denen ihre Würde genommen wird. In wem steigen da nicht unwillkürlich Rachegelüste auf? Was Platz in unserer Seele greift, hat aber auch Platz im Gebet. Unsere Gefühle (für die wir nichts können, die sich einstellen, ob wir wollen oder nicht) müssen sich Luft und Sprache verschaffen dürfen – erst recht vor Gott. Wenn wir unsere Gefühle an jemanden adressieren, unzensuriert (!) vor jemandem ausbreiten dürfen, verändert sich bereits etwas. Das sprichwörtliche „Sein-Herz-Ausschütten“, hat reinigende Wirkung, „wir werden etwas los“, was uns „die Kehle zuschnürt“ und „im Magen liegt“. Und wer ist die richtigere Adresse als Gott? Am allerwenigsten darf es im Gebet eine Zensur geben. Wo, wenn nicht da, dürfen wir offen, unbeschönigt reden, wie uns zumute ist!
Abgesehen davon: Im Psalter gibt es keinen einzigen „Rachepsalm“, in dem der Beter schwört, selber Rache zu nehmen an seinem Peiniger. Immer wird die Vergeltung Gott anheim gestellt. Er soll den Beter „rächen“. Das ist Gewaltverzicht pur.
Und dann kommt noch dazu, dass unter „der Rache Gottes“ nie ein blindwütiger, wutübermannter Amoklauf verstanden wird (so als wäre Gott ein gekränkter, beleidigter Mann, mit dem seine Gefühle durchbrennen), sondern die Wiederherstellung der eklatant verletzten Rechtsordnung.
P. Michael Kreuzer SVD
Foto: Karl Fluch