06. Sep 2024
Psalm 82
Psalm 82 redet vom Anbruch der „universalen Königsherrschaft JHWHs“ in einem ganz neuen, höchst originellen Bild.
Psalm 82
1 Ein Gott tritt auf in der Versammlung Els,
inmitten der Götter hält er Gericht.
2 Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten
und die Frevler begünstigen?
3 Verhelft zum Recht den Geringen und Waisen,
dem Elenden und dem Bedürftigen schafft Gerechtigkeit!
4 Befreit den Geringen und Armen,
entreißt sie der Hand der Frevler!
5 Sie erkennen nicht, verstehen nichts,
sie wandeln umher in Finsternis.
Alle Grundfesten der Erde wanken.
6 Ich habe gesagt: Ihr seid Götter,
ihr alle seid Söhne des Höchsten.
7 Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen,
sollt stürzen wie einer der Fürsten.
8 Steh auf, Gott, und richte die Erde!
Denn alle Nationen werden dein Erbteil sein.
Die 1. Strophe greift ein Bild auf, das jeder Altorientale kennt und das in seiner Umwelt ebenso häufig begegnet wie im christlichen Abendland ein Kruzifix: Der Vatergott El sitzt auf seinem himmlischen Thron und hält Rat mit seinen Söhnen, den übrigen Göttern, die um ihn herumstehen und von denen jeder ein anderes Volk regiert. Das ist die himmlische Ratsversammlung, die zusammen die Geschicke der Welt lenkt. Das ist das Bild in einer polytheistischen Weltsicht. In dieses Bild kommt Bewegung, indem sich nun einer der Göttersöhne hinstellt, um Anklage zu erheben. Bis hierher verläuft alles gemäß den gewöhnlichen Vorstellungen eines Altorientalen, allerdings denkt er unwillkürlich, dass sich die Anklage gegen ein Volk oder einen irdischen König richten wird.
Die 2. Strophe kommt entsprechend überraschend. Offensichtlich erhebt der eine Gott, der sich im Kreis der andern hervorgetan hat, Anklage gegen seine Götterkollegen! Er kritisiert den bisherigen Verlauf der Ratsversammlung. Die Götter fällen ihre Regierungsentscheidungen so, dass die Frevler begünstigt und die Armen um ihre Rechte gebracht werden. Ihre Pflicht wäre doch, ganz im Gegenteil den Armen zu ihrem Recht zu verhelfen und sie aus der Unterdrückung durch die Frevler zu befreien!
Die 3. Strophe spricht entweder der Erzähler, der auch die 1. Strophe gesprochen hat, oder der eine Gott, der in der 2. Strophe das Wort ergriffen hat; er spricht hier gleichsam zur Seite, wie wenn in einem Theaterstück ein Schauspieler unhörbar für die Mitspieler direkt zum Publikum redet. Jedenfalls werden die Götter der Unfähigkeit bezichtigt, und das ist der Grund, warum es auf Erden drunter und drüber geht. Es fehlt an einer fähigen Regierung.
Die 4. Strophe ist wieder Rede des einen, Anklage erhebenden Gottes. Er fällt das richterliche Urteil: „Hiermit erkläre ich feierlich: Ihr seid die längste Zeit Götter gewesen. Ihr seid abgesetzt. Wie irdische Fürsten stürzen, so sollt ihr jetzt fallen und des Weltregiments enthoben sein.“
Die 5. Strophe wechselt den Schauplatz. Sie spielt nicht im Götterhimmel, sondern auf Erden. Es handelt sich um das Gebet der Völker, das zu dem einen Gott aufsteigt, der fähig und willens ist, die Welt gerecht zu regieren. Nachdem die Götter gestürzt und ihre Throne vakant sind, soll ER das Weltregiment übernehmen.
Text: P. Michael Kreuzer SVD
Foto: Pfarrbriefservice.de