Silvester – Jahreswechsel

Predigtimpuls

Geschenk der Zeit und ihrem Geheimnis

Vergangenheit
Die Zeit ist mir wichtig. Dennoch kann ich die Zeit nicht festhalten. Sie fließt und läuft, sie vergeht und entschwindet, sie enteilt und verfliegt. Sie ist darin für mich ein unlösbares Rätsel. Obwohl ich das immer erlebe, geht mir diese Tatsache an diesem Abend, in den letzten Stunden des auslaufenden Jahres besonders unter die Haut. Hier erfahre ich deutlicher und stärker als sonst, dass im Fluss der Zeit, in ihrem Entgehen und Verschwinden, in ihrem Enteilen und Verfliegen eine Zeitspanne, ein Zeitabschnitt, ein Stück meines Lebens unwiderruflich vergeht. Wo ist dieses Jahr, wo sind alle bisherigen Jahre meines Lebens geblieben? Die Vergänglichkeit meines Lebens kommt unausweichlich auf mich zu. Darüber befallen mich eine eigenartige Trauer und Schwermut. Mit dem Psalmisten bringe ich sie an diesem Abend vor Gott: „Tausend Jahre sind vor dir, o Gott, wie ein Tag, der gestern verging, wie eine Wache in der Nacht.“ (Ps 90,4) Vor Gott lerne ich – diese Trauer und diesen Schwermut zu ertragen und mich in ihnen meiner Vergänglichkeit zu stellen. Sie gehört zu meinem Leben. Weil das so ist, kann ich die Zeitspanne, den Zeitabschnitt dieses vergehenden und auslaufenden Jahres, dieses Stück meines Lebens anschauen und annehmen. Was ich darin an Glück und Freude, an Schönem und Gutem, an Aufbauendem und Erfüllendem erleben und an Tragik und Unglück, an Schmerz und Versagen durchleiden durfte, gehen in ihrer Vergänglichkeit in mein Leben ein und bestimmen es. Alles das wird zu meiner urpersönlichen Vergangenheit: und weil Gott sie mir schenkt und zumutet, darf sie mich auch in meine Gegenwart begleiten, und ich darf sie darin zulassen.

Gegenwart
Aber gibt es das überhaupt - das Heute, das Jetzt, den Augenblick, die Gegenwart? Ist sie nicht eine Fiktion, ein Vorwand, ein schöner Schein. Eine Augenwischerei, eine Art Selbsttäuschung und Selbstbetrug? Ist sie nicht einfach ein angenommener Punkt auf der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft und entschwindet sie nicht sofort, wenn ich mir ihrer bewusst werde? Nein! Von meiner Vergangenheit und all dem, was sich darin ereignet und geschieht, weiß ich, dass es das Heute, das Jetzt, den Augenblick, die Gegenwart gibt. In den Situationen der Wahl und der Entscheidung, in den Situationen des Anrufes und der Antwort, in den Situationen der Verantwortlichkeit und der Verantwortung erlebe ich sie. In diesen Situationen bin ich mir selbst ganz gegenwärtig und dem, der mich in diese Situationen hineinführt. Sie sind gleichsam Orte der Gegenwart. Sie ermöglichen Gegenwart und ergießen sich als solche in die Gegenwart Gottes, die Dauer verleiht. Unter dieser Rücksicht enthält die Zeit, die mir gegeben ist, das Geschenk der Gegenwart. Sie ist eine Chance, eine Gelegenheit, ein Angebot, ja eine Art Hochkonjunktur, die mir diese Gegenwart eröffnet. So ist sie, wie der Apostel Paulus sagt, ,,Zeit der Gnade“ und „Tag der Rettung“ (2Kor 6,2). An dieser Wirklichkeit hat auch das kommende Jahr, an dessen Schwelle wir stehen, teil. Es wird mich in die Situationen der Entscheidung und Wahl, des Anrufes und der Antwort, der Verantwortung und Verantwortlichkeit hineinrufen, und ich habe es wahrzunehmen als Zeit der Gnade und der Rettung, in der ich mich für das Gelingen meines Lebens und für seine endgültige Zukunft bereite. „Es ist die unendliche Bedeutung eines jeden Augenblicks der Zeit, dass wir uns in ihr entscheiden und dass in ihr über unsere ewige Zukunft entschieden wird.“ (P. Tillich)

Zukunft
Damit kommt das dritte Element im Geheimnis der Zeit in meinen Blick: die Zukunft. Die Zeit läuft ja nicht im Kreis, sie dreht sich nicht um sich selbst, sie reproduziert und wiederholt sich nicht. Sie ist einmalig, sie läuft vorwärts und schafft Neues. Sie richtet sich auf ein Ziel aus. Es ist etwas in ihr, das auf ein Ende, auf ein Unbekanntes zustrebt, das ich immer schon ersehne, aber in der Zeit nie erreiche und ergreife. Die Zeit läuft der ewigen Zukunft entgegen, und darin löst sich das Rätsel der Zeit. Jesus nennt diese ewige Zukunft das „Reich Gottes“, und Johannes entwirft sie in seiner Apokalypse als eine neue Schöpfung. In ihr zeigt sich ein neuer Himmel und eine neue Erde, eine neue Wirklichkeit der Gottunmittelbarkeit, in der weder Trauer noch Leid, noch Mühsal, noch der Tod sein werden (vgl. Offb 21,1-6). Dem Anbruch dieser Wirklichkeit dient die Zeit, Hoffnung auf diese Zukunft und darin auch mit der Hoffnung, dass sich in dieser Zukunft mein Leben vollendet und in sein letztendliches Gelingen hineinwächst. Es mag in diesem kommenden Jahr passieren, was will, alles bringt mich dieser Zukunft näher.

Anspruch der Zeit
Ich stehe also mit der Gabe, mit dem Geschenk, mit der Gnade der Zeit in ihrer Vergangenheit. Gegenwart und Zukunft unter einem ungeheuren Anspruch. Aber darin stehe ich nicht allein. Ich weiß, dass derjenige, der mich in diesem Geschenk der Zeit anspricht, selbst in seinem Sohn in diese Zeitlichkeit eingetreten ist und deren Freude und Last, deren Hoffnung und Schmerz, deren Heil und Unheil mit mir trägt. Er ist in seinem Eintritt in diese Zeit die Garantie dafür, dass ich diesem Anspruch der Zeit entsprechen, dass ich ihrem Ruf antworten kann, weil er es in seiner Liebe und Solidarität mit mir tut. Darum kann ich das Geschenk der Zeit mit ihrem Anspruch annehmen und zuversichtlich in sie hineingehen, auch in die Zeit des kommenden Jahres.

[Anmerkung der Redaktion: Die von P. Janicki verfasste Predigt wurde bereits veröffentlicht in: DIE ANREGUNG, Nettetal 1992; S. 504ff]

P. Franz-Josef Janicki SVD
 

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