01. Nov 2005
Wir beten für alle, die Gott suchen und sich nach der Wahrheit sehnen: Lass sie darin dem Herrn begegnen.
Der Mensch, ein "Gottesbeweis"?
Der bekannte Schriftsteller Heinrich Böll hat in einem Interview mit dem Germanisten und Theologen Karl-Josef Kuschel darauf hingewesen, dass der Mensch eine Art Gottesbeweis sei. Gefragt, wie er das meine, antwortete er: "Die Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen - auch wenn wir es nicht zugeben -, dass wir hier auf der Erde nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause sind. Dass wir also noch woanders hingehören und von woanders herkommen. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der sich nicht - jedenfalls zeitweise, stundenweise, tageweise oder auch nur augenblicksweise - klar darüber wird, dass er nicht ganz auf diese Erde gehört." Und weiter: "Es handelt sich keineswegs um ein bloßes Gefühl, sondern vielleicht um eine uralte Erinnerung an etwas, das außer unser selbst existiert." Viele Menschen erfahren Ähnliches, auch wenn sie das in anderen Sprachbildern und Sprachsequenzen formulieren.
Der Mensch, ein Sehnsuchtswesen
Das scheint der Grund dafür zu sein, dass in fast allen Menschen ein große Sehnsucht lebt nach dem Woher und Woraufhin ihrer Existenz. Sie fragen und suchen sehnsüchtig nach diesen Wirklichkeiten und möchten sie für sich deuten, erhellen und vielleicht sogar erreichen.
Hinzu kommt: Das Leben, so wie sie es jeweils vollziehen, zeigt sich trotz aller erfüllenden und qualitätsvollen Erfahrungen als ein in seinem Grund zwiespältiges, kontingentes und seiner eigentlichen Identität entfremdetes Ereignis. Das Leben bietet sich ihnen in seiner existentiellen Obdachlosigkeit, Fremdheit, Armut und Leere dar. Viele erfahren darin ihr Leben als die "copiosa egestas", als die "reiche Bedürftigkeit", wie es Augustinus formuliert oder als "grandeur-misère", als "Adelselend", wie es Pascal ausdrückt (J. Bours). Sie spüren, dass sie nur von einer anderen Dimension her an- und aufgefüllt werden kann. J.B. Brantschen weist mit anderen Worten auf dieselbe Realität hin: "Viele hungern in unserer zerstückelten Kultur und Massenzivilisation nach Einheit, Ganzheit, Liebe und Geborgenheit, sie suchen ihr Heil in einer "Reise nach Innen', in einem Sprung ins "Irrationale', das viele Namen hat."
Der Mensch, ein Sehnsuchtswesen nach Gott
Es geht aber dabei nicht um die vielen Namen und die Wirklichkeiten, die sich dahinter verbergen. Es geht um den einen Namen und die eine Wirklichkeit, die das Sehnen der Menschen zu einem letzten Sinn und zu einer zu sich selbst bringenden Lebensfülle führt. Es geht um die Wirklichkeit Gottes. Die Menschen sind Sehnsuchtswesen, die sich immer wieder neu in ihre Zukunft hinein entwerfen. Dieser Prozess aber kann nur zu einer Erfüllung kommen, wenn sie Gott begegnen. Augustinus hat das so formuliert: "Du hast uns zu dir hin erschaffen, und unser Herz kommt nicht zur Ruhe, bis es ruht in dir." Augustinus präzisiert in dieser genialen Kurzformel das, was auch die Grundüberzeugung der Bibel ist: Gott allein kann die unendliche Sehnsucht des Menschen stillen. In allen ihren Sehnsuchtsbewegungen schreien sie deswegen unbewusst oder bewusst nach IHM.
Wie sich die Sehnsucht erfüllt
Dass aber Menschen IHN finden in ihren Sehnsuchtbewegungen ist ein Ereignis ganz eigener Art. Sie können es nicht erzwingen, nicht herstellen, nicht erschaffen, nicht verdienen. Aber sie können eins: in einer ganz bestimmten Weise leben. Sie können so leben, dass sie sich in ihrer Sehnsucht immer wieder überschreiten und sie nicht mit zweitrangigen Erfüllungen, Surrogaten also, abwürgen. Vielleicht ist wichtig, was Origenes von Alexandrien schreibt: "Wenn ihr nicht im Verborgenen hört, wird eure Seele weinen... Man muss wissen, dass es im innersten Herzen des Menschen eine Stimme gibt, die durch keinerlei körperliches Werkzeug hervorgebracht wird, die vielmehr der Mensch, in sich gesammelt und eingetreten in sein Kämmerlein, bei verriegelter Tür und gelöst von seinem Körper zu dem entsendet, der allein eine solche Stimme zu hören vermag." Es gilt, im Verborgenen zu hören. "Im Hinhören auf die innere Lebensstimme, den unverwechselbar eigenen Lebenston inmitten der vielen Herzensstimmen, sieht sich jeder Mensch angesprochen und herausgerufen - in der Stimme des Gewissens und der Vernunft, in der Sprache der Sehnsucht und der Träume, im Alphabet der Ängste und Bedürfnisse. Auf diese Stimmen gilt es zu hören, sonst wird die Seele (und das heißt christlich immer: der ganze Mensch, denn es gibt diese Seele nicht ohne Leib) weinen" (Gotthard Fuchs). Wer aber existentiell so umfassend hört, entwirft sich auf den schlechthin Hörenden hin, das heißt er "schafft" durch diese Lebensweise die Bedingungen der Möglichkeit, dass es zu einem "Offenbarungsereignis" kommen kann. Geschieht dies aber, dann wird sich in diesem Geschehen auch das Antlitz Jesu, der "Herr", finden lassen, denn in ihm hat sich der schlechthin Hörende, der lebendige Gott endgültig, hörbar gemacht. Das aber will erbeten sein.
Dieser Beitrag ist entnommen aus der Zeitschrift Ausgabe 6/2005