01. Jun 2004
Wir beten, dass die Europäische Union aus ihrem christlichen Erbe, dem wesentlichen Bestandteil ihrer Kultur und Geschichte, neue Kraft schöpft.
Gemeinsame Wurzeln
Europa - geographisch gesehen ist es nur so etwas wie der "Wurmfortsatz" der riesigen eurasischen Ländermasse. Und trotzdem hat sich hier die Kultur und Zivilisation herausgebildet, die heute dabei ist, zur Weltzivilisation zu werden.
So politisch zerstritten Europas Völker auch waren, es gab eine gemeinsame Kultur. Ein kleines Symptom: Als man den Euro einführte, überlegte man: Was soll auf den Euro-Scheinen abgebildet werden? Eine Persönlichkeit? Ein berühmtes Bauwerk? Die hätten in jedem Falle einer bestimmten Nation angehört. So entschied man sich, die europäischen Baustile abzubilden, von der antiken Klassik über die Romanik und Gotik bis zum Barock u.s.w. Und wirklich: diese Baustile verbanden alle Völker der Europäischen Union. Sie gehörten zur gemeinsamen europäischen Kultur.
Um diese Kultur zu kennzeichnen, hat man drei Städte genannt, in denen sie ihre Wurzeln hat: Athen, Rom und Jerusalem.
Der schmerzliche Weg zur Einheit - im Westen
Natürlich darf man auch die Schattenseiten nicht übersehen. Dieser "kleine Wurmfortsatz" war zersplittert und zerstückelt in z.T. winzige Staaten und Herrschaftsgebiete. Hier tobten Kriege, zerfleischten sich Nationen, ging es um Macht und Vorherrschaft. Ja selbst die Religion war die Ursache blutiger Kriege.
Nachdem zwei schreckliche Weltkriege Millionen von Toten überall in Europa gefordert hatten, setzte in den Nachkriegsjahren eine Besinnung ein. Aus den Erbfeinden Deutschland und Frankreich wurden zwei enge Partner. Die Deutschen sahen, dass sie nur im europäischen Kontext eine Zukunft hatten. Die Gemeinschaft der Sechs, mit der die europäische Einheit begonnen hatte, vergrößerte sich bis auf fünfzehn Mitglieder. Die Einführung einer gemeinsamen Währung krönte dieses europäische Einheitswerk. Aber das alles blieb auf Westeuropa beschränkt.
und im Osten
Doch dann, am 1. Mai 2004: Über Nacht wächst die Europäische Union von 15 auf 25 Staaten. Ihre Bevölkerung nimmt um 75 Millionen Menschen zu und zählt nun 450 Millionen Einwohner. So groß, so mächtig und so einig war Europa noch nie.
Die Staaten, die noch vor 15 Jahren bis an die Zähne gerüstet mit Atomwaffen gegeneinander standen, sind jetzt zu Partnern geworden, die sich in ihrer gemeinsamen Verfassung versprechen, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen.
Der Kitt
Und trotzdem: der europäischen Zentrale in Brüssel wird es nicht nach Freudentränen zumute sein. Je größer die europäische Union wird, desto schwerer ist sie zu regieren, desto mehr werden die Interessen der so verschiedenartigen Nationen auseinander klaffen. Was ist der Kitt, der die europäische Union zusammenhält? Ist es mehr als wirtschaftliche Interessen? Sind es die oft beschworenen gemeinsamen europäischen Werte? Ist es vielleicht sogar das Christentum?
Die europäische Kultur ist ohne das Christentum nicht zu denken. Doch welche Rolle spielt es heute? Wir erinnern uns noch an den Streit, ob in der künftigen europäischen Verfassung Gott genannt werden sollte. Das deutsche Grundgesetz von 1949 begann: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen..." Sollte bei der europäischen Verfassung Gott nicht an ähnlicher Stelle genannt werden? Doch da erhob sich erbitterter Widerstand. Hat Europa seine christlichen Wurzeln vergessen?
Eine Heimat für alle
Aber die Gegner des Gottesbezugs handeln ja nicht lediglich aus Aversion gegen das Christentum. Tatsache ist, dass heute in Europa Christen, Muslime und Juden leben - und eine bedeutende Zahl von Atheisten. Das Dach der europäischen Union soll allen eine Heimat bieten und keinen wegen seiner Religion oder Weltanschauung ausschließen. So halte ich es auch für ein schlechtes Argument, die Türkei auszuschließen, weil sie kein christliches Land sei. Es gibt andere Gründe, aber nicht diesen.
Ich glaube, wie wir Katholiken vor 50 Jahren das enge konfessionelle Denken überwunden haben: "Nur eine katholische Schule, nur eine katholische Partei!", so sollten wir uns jetzt für die "größere Ökumene" (Friedrich Heiler) öffnen, die Ökumene der Religionen, die Toleranz der Weltanschauungen.
Das ist keineswegs Mangel an christlicher Überzeugung. Im Gegenteil: Es ist die Haltung Jesu von Nazaret. Der Tiefe seiner Gottesbeziehung entsprach die Weite seines Herzens. Er kämpfte gegen ein verengtes jüdisches Denken und provozierte die Frommen, indem er heterodoxe Samariter über orthodoxe Juden stellte (vgl. das Beispiel vom barmherzigen Samariter).
Wir sollten also für beides beten: dass Europa sich wieder auf sein christliches Erbe besinnt, und dass eben dieser christliche Geist ihm die Weite gibt, auch für Nichtchristen offen zu sein.
Dieser Beitrag ist entnommen aus der Zeitschrift "DIE ANREGUNG" Ausgabe 3/2004