Allgemeine Gebetsmeinung - Februar 2008

01. Feb 2008

Wir beten, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht ausgegrenzt werden, sondern liebevolle Hilfe erfahren, ihr Leben in Würde zu leben.

Kathchen
Als ich ein Kind war, lebte in unserem Dorf eine Frau mit einer geistigen Behinderung. Kathchen, so hieß die Frau, lebte allein in einem kleinen Haus. Die Kinder im Dorf machten sich einen Spaß daraus, diese arme alte Frau zu ärgern, wo sie nur konnten. Sie hatten so hässliche Namen für eine geistig Behinderte, dass ich sie hier gar nicht wiederholen möchte. Sobald Kathchen auftauchte, riefen sie ihr diese Namen zu, und machten sich einen Spaß daraus, wenn Kathchen ihnen voller Wut nachlief und sie doch nie einholen konnte. 

Ich denke, fast in jedem Dorf gab es einen solchen Behinderten, der von den "Normalen" ausgegrenzt und verlacht wurde. Ja, mehr noch. Ich habe es zwar nicht mehr bewusst erlebt, aber man nannte mir die Namen geistig Behinderter aus unserem Dorf, die von den Nazis abtransportiert und in den Gaskammern umgebracht wurden. "Vernichtung lebensunwerten Lebens" nannte man das. Gewiss war das nicht die Schuld der Dorf- oder Stadtbewohner, aber es gab doch ein gewisses Klima, in dem so etwas möglich war.

 

Eine neue Sensibilität
Hier hat sich vor allem seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts vieles zum Besseren gewandelt. Das beginnt schon bei der Benennung. Die Bezeichnungen "Schwachsinn" und "Debilität" sind ganz aus der Fachsprache verschwunden. Selbst das Wort "geistig Behinderte" wird gerne durch "Menschen mit geistiger Behinderung" ersetzt, um zu betonen, dass diese Kranken volle Menschen sind. Unsere Gebetsmeinung hat diesen korrekten Ausdruck übernommen. Wie der Wandel im Sprachgebrauch zeigt, ist in den letzten Jahrzehnten eine neue Sensibilität für behinderte Menschen gewachsen, nicht nur für geistig Behinderte.  

Bei Parkplätzen, Toiletten, Aufzügen, Bahnsteigen, ja Schulen und Hotels: überall bemüht man sich, behindertengerecht zu sein. So wird auch bei geistig behinderten Menschen auf das alte ausgrenzende Schimpfwort-Vokabular verzichtet. Sie werden nach Möglichkeit nicht in Anstalten, gar "Irrenanstalten" untergebracht, wo sie ausgegrenzt und stigmatisiert sind. Statt dessen wurden Möglichkeiten zu betreutem Wohnen geschaffen, wo Menschen mit geistiger Behinderung möglichst selbstbestimmt leben können, aber Hilfe bekommen, wo sie sie brauchen.

 

Wohnung, Schule, Arbeitsplatz
Behindertenpädagogisch angelegte Schulen sollen ihnen helfen, ihre geistigen und menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln. Auch hier eine wachsende Sensibilität: statt von "Hilfsschulen" spricht man von "Sonderschulen" oder besser von "Förderschulen". - Ist die Zeit der Schule zu Ende, sollen die Behinderten nach Möglichkeit Arbeiten finden, die sie ausfüllen, ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Da sie auf dem ersten Arbeitsmarkt oft nicht mit den Gesunden konkurrieren können, gibt es einen zweiten Arbeitsmarkt, in dem sie das leisten, was sie leisten können. Organisationen wie die Caritas oder die Lebenshilfe unterhalten Werkstätten für Behinderte. Als ich diese Werkstätten besuchte, war ich erstaunt, was Menschen mit geistiger Behinderung leisten können, wenn sie entsprechende Anleitung finden.

Im Ganzen also eine erfreuliche Entwicklung. Was bleibt noch zu tun? Sind Menschen mit geistiger Behinderung heute nicht mehr ausgegrenzt? Wird ihre Würde überall respektiert? Davon kann leider keine Rede sein. Die Institutionen, die sich der geistig Behinderten annehmen beim Wohnen, in der Schule, bei der Arbeit, sind zwar verbessert, aber es gibt noch viele, die um Menschen mit geistiger Behinderung einen weiten Bogen machen.

 

Abtreibung behinderter Kinder
Noch schlimmer: durch die Fortschritte der vorgeburtlichen Diagnostik kann man eine geistige Behinderung oft schon im Mutterleib erkennen, und nicht wenige dieser Kinder werden auf Wunsch ihrer eigenen Eltern abgetrieben. Das lässt an die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" durch die Nazis denken. 

So behindertenfreundlich unsere säkularisierte Gesellschaft auch in mancher Hinsicht geworden ist, fehlt doch das Bewusstsein, dass menschliches Leben, auch das Leben Behinderter, eine absolute Würde hat. Dass es wirklich unantastbar ist, wie es auch im Grundgesetz steht. Die Garantie der absoluten Würde und absoluten Unantastbarkeit kann eben die Gesellschaft sich nicht selbst geben. Sie kann nur von einem Höheren kommen, über das wir keine Verfügung haben.

In 18. Kapitel des Matthäusevangeliums spricht Jesus häufig von den "Kleinen". Dazu gehören nicht nur die Kinder, sondern alle, die vor den Menschen klein sind, insbesondere die Menschen mit geistiger Behinderung. Von ihnen sagt Jesus: "Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters" (Mt 18,10).

 


Kommentar zur Allgemeinen Gebetsmeinung Februar 2008 aus der Zeitschrift "Die Anregung", Ausgabe 1/2008, Steyler Verlag, Nettetal

Karl Neumann SVD

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