Die Berliner Brüder

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20. Jun 2023

Missionare leben und arbeiten nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Europa. Etwa im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Zu Besuch in der dortigen Kommunität

Die Berliner Brüder

Es ist still in der Kirche St. Marien Liebfrauen, ein paar Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster. Selbst an Sonntagen finden sich hier nur wenige Dutzend Besucher zum Gottesdienst ein. An diesem Dienstagmorgen ist die Kirche fast leer. Im Gebet versunken sitzen Bruder Bernd Ruffing SVD und Bruder Emanuel Huemer SVD vor dem Seitenaltar aus Holz. „Schafft Orte, wo jeder kommen kann. Lernt die Armen kennen, die unter Euch leben“ steht auf der Inschrift, die ihn umrandet.
Die Sätze bedeuten ihnen viel, sagen die beiden später. Denn sie drücken genau das aus, was sie hier in der Gemeinde tun wollen. Nur das Wort „Arme“ gefällt ihnen nicht. „Das klingt so von oben herab. Und das passt nicht zu einem Bruder“, findet Bruder Bernd, 49. Er würde es lieber durch „Menschen“ ersetzen.
Die Menschen, die sie meinen, sind ihre Nachbarn. Viele von ihnen haben keinen festen Wohnsitz, manche schlafen vor der Kirchentür. Sie sind obdachlos, drogen- oder alkoholabhängig, heimatlos, geflüchtet, psychisch krank. Ihnen wurde der Strom abgestellt, sie haben Hunger oder sind einfach einsam. Sie betteln, manche dealen, stehlen, sind prekär beschäftigt oder leben vom Bürgergeld. Vor allem: Sie werden nicht wahrgenommen. „Gerade das ist eine große Not dieser Menschen“, sagt der aus Oberösterreich stammende Bruder Emanuel, 38, beim Verlassen der Kirche.

Das eindrucksvolle, frisch renovierte, im neoromanischen Stil gebaute Gotteshaus mit dem Marienbrunnen auf dem Vorplatz passt so gar nicht zur Umgebung im sogenannten Wrangelkiez in Berlin-Kreuzberg. Zu den graffitibeschmierten Fassaden, den engen Straßen mit den vielen Falafel-Imbissen, den heruntergekommenen Häusern, auch wenn hier längst die Gentrifizierung begonnen hat. Um die Ecke liegt der Görlitzer Park, auch bekannt als einer der größten Drogenumschlagplätze Berlins. Morgens sammelt Bruder Bernd vor der Kirche Drogenbesteck auf – Spritzen, Feuerzeuge oder Löffel – und wirft es weg.
Draußen am schmiedeeisernen Tor stehen Männer, denen man ihre persönliche Not ansieht. Bruder Bernd und Bruder Emanuel gehen auf sie zu, nehmen sich Zeit für ein Gespräch. Man kennt sich, lacht miteinander. Einer der Männer nimmt Bruder Bernd zur Seite. Er habe sich verschuldet, muss raus aus seiner Wohnung und woanders unterkommen. Ob er ihm dabei hilft? Selbstverständlich wird er das.

Die Kirche St. Marien Liebfrauen liegt im Berliner Stadtteil Kreuzberg.
Die Kirche St. Marien Liebfrauen liegt im Berliner Stadtteil Kreuzberg.

"Bruder sein"

Aber jetzt wird erst einmal gefrühstückt. Seit über zwei Jahren wohnen die beiden Missionare im zweiten Stock des Seitenflügels der Kirche. Ein typisches WG-Leben in drei Zimmern. Gelegentlich nehmen sie auch jemanden auf, der sich in einer akuten Notsituation befindet. Für solche Fälle steht ein Bett im Wohnzimmer bereit. Der dritte im Bund ist der Benediktinerpater Benno Rehländer, der nebenan wohnt. Der große Holztisch in der gemütlichen Küche ist das Herz der Wohnung. Hier wird gegessen, geredet, diskutiert, gebetet, selten gestritten und oft gelacht. Die drei verstehen sich gut.

Bei Kaffee, Saft und Schrippen erzählt Bernd Ruffing, wie es zu dieser WG kam. Oder, präziser gesagt, zu dieser Kommunität. Es ist die zweite der Steyler in Berlin. Vorher wohnte
Bruder Bernd mit deutlich älteren Mitbrüdern in Charlottenburg, einem bürgerlichen Viertel und damit weit weg von den Brennpunkten der Stadt. „Mein Leben hatte da keinen Platz. Ich wollte etwas Neues anfangen, wie es mein Auftrag war, mit dem ich nach Berlin geschickt wurde. Im Blick auf die Steyler Provinz, in der aus Mangel an Nachwuchs Häuser geschlossen werden, sind Neuanfänge und kleine Versuche wichtig.“
Und er wollte unter den Menschen leben, die von der Gesellschaft vergessen werden. Denn Kirche, so seine feste Überzeugung, fängt unten an. Als Bruder Emanuel nach Berlin geschickt wurde und die beiden feststellten, dass sie die gleiche Vorstellung vom Missionar Sein hatten, war der Zeitpunkt gekommen, eine neue Bleibe zu suchen. Eine Idee war, mit Geflüchteten in einem Containerdorf zu leben. Doch das wurde ihnen von den Behörden nicht erlaubt. Dann bot ihnen die Kirche die Wohnung in St. Marien Liebfrauen an. Eine „göttliche Fügung“, wie Bruder Bernd es nennt. „Genau der richtige Ort für uns“, so Bruder Emanuel. „Hier können wir den Menschen Bruder sein.“
Sie nehmen ihre Amtsbezeichnung „ihr Bruder sein“ wörtlich, sehen sich als Mit-Macher, Teil der Gemeinschaft. Beide gehen in der Öffentlichkeit nicht damit hausieren, dass sie zu den Steyler Missionaren gehören. Sie sind für die Nachbarschaft, zu denen auch die Obdachlosen gehören, Bernd und Emanuel. Sie sind die zwei, die neben der Kirche wohnen, zuhören, Respekt zeigen, an ihren Küchentisch einladen, bei der Suppenküche mithelfen.

Am Küchentisch tauschen sich die Brüder aus, planen die Woche, reden buchstäblich über Gott und die Welt.
Am Küchentisch tauschen sich die Brüder aus, planen die Woche, reden buchstäblich über Gott und die Welt.

Als Fahrrradkurier unterwegs

Aber auch Missionare müssen Geld verdienen. Bruder Emanuel etwa arbeitet Teilzeit als Fahrradkurier. 40 bis 60 Kilometer ist er an seinen Arbeitstagen für einen ökologischen Lieferdienst auf einem Lasten-E-Bike unterwegs. Auf den langen Strecken lernt er Psalmen auswendig. Trotzdem klingt das erst einmal nicht nach einer Aufgabe für einen Bruder. Dem widerspricht Emanuel auf seine ruhige, grüblerische Art. Angetrieben von einem starken Gerechtigkeitsgefühl sieht er sich in der Tradition der Arbeiterpriester. Die Bewegung, die Anfang des vorigen Jahrhunderts entstand, wollte die Kluft zwischen Kirche und Arbeiterschaft überwinden, indem die Priester das Los der Arbeiter teilten, in die Fabriken gingen und mitarbeiteten. Heute gehören Fahrradkuriere zu den prekär beschäftigten Berufsgruppen. „Deshalb bin ich dort angestellt, verdiene Mindestlohn.“ Er ist verärgert über die Arbeitsverhältnisse, unter denen die Mitarbeiter leiden, die finanzielle und körperliche Ausbeutung.

Br. Emanuel Huemer sieht sich in der Tradition der Arbeiterpriester. Er arbeitet Teilzeit als Fahrradkurier.
Br. Emanuel Huemer sieht sich in der Tradition der Arbeiterpriester. Er arbeitet Teilzeit als Fahrradkurier.

Es geht ihnen um die Menschen

Bruder Bernd, für den es, wie er sagt, nichts Spannenderes als Menschen gibt, arbeitet in Teilzeit als Krankenhausseelsorger im St. Joseph Krankenhaus. Wie in seinem Kiez ist er auch hier für Menschen da, die Zuspruch brauchen. Er kann gut zuhören, nimmt sich Zeit für die Wünsche, Ängste, Lebensbeichten, respektiert Grenzen. Wenn die Patienten zustimmen, spricht er am Ende ein Gebet. Gelegentlich melden sich Angehörige, um ihm zu berichten, wie gut das Gespräch der Mutter oder dem Vater getan hat. Das freut ihn.
An diesem Nachmittag hilft er in der Suppenküche der Gemeinde. Etwa zehn freiwillige Helfer sind schon zwei Stunden vor Beginn mit Gemüseschnippeln und Kochen beschäftigt. Türkische Linsensuppe mit Köfte gibt es heute. Etwa 100 Portionen werden vorbereitet. Bruder Bernd kommt etwas später, weil er im Krankenhaus noch zu einer Patientin gerufen wurde.

Punkt zwei Uhr wird die Tür geöffnet, die Menschen, fast nur Männer, strömen herein, nehmen sich einen Kaffee und setzen sich an die langen Tische. Sie werden bedient, auch von Bruder Bernd. Er setzt sich hier und da dazu, hält ein Schwätzchen, hört sich Sorgen an, verbreitet gute Laune. „Der ist prima“, sagt ein alter Mann, während er die Suppe löffelt. Der Tag klingt wie so oft am Küchentisch aus. Hier haben die beiden Missionare schon viel entwickelt und vorbereitet: nicht nur Gottesdienste, auch das tägliche Morgengebet in der Kirche oder die Straßenexerzitien, bei denen Menschen in einer ihnen ungewohnten Umgebung wie Kreuzberg üben, sich selbst, den anderen und darin Gott zu begegnen. Die neue Idee: ein weiteres Zimmer im Haus mieten. Dort sollen Menschen wohnen können, die dringend eine Auszeit oder Kirchenasyl benötigen. Denn um Menschen geht es ihnen. Immer.

Text: Ulla Arens, Fotos: Marzena Skubatz

Den Artikel haben wir der Juli/August-Ausgabe des Steyler Magazins 'Leben jetzt' entnommen.

Der Glaube hat die Macht, die Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeiten zu verändern. Davon ist Br. Emanuel überzeugt.
Der Glaube hat die Macht, die Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeiten zu verändern. Davon ist Br. Emanuel überzeugt.

Emanuel Huemer SVD
Das bürgerliche Milieu verlassen
Der Oberösterreicher studierte Religionspädagogik, baute in Wien
ein offenes, multikulturelles Jugendzentrum mit auf.
• 2018 legte er seine ersten Gelübde in St.Gabriel ab. Missionar zu sein bedeutet für
Emanuel Huemer SVD hinauszugehen zu den Menschen. Denn: „Im Reich Gottes gibt es keine Hierarchie und auch keine Ausbeutung, sondern nur echte Beziehungen.“
• Kurz vor der Pandemie ging er für 18 Monate nach Mexiko, wo er in Salto de Agua in einer Migrantenherberge der Steyler Missionare arbeitete. Dort konnten sich die Geflüchteten aus unterschiedlichen zentralamerikanischen Ländern für einige Tage erholen, bevor sie sich wieder auf den Weg Richtung US-Grenze machten.
• Emanuel Huemer gehört zur ökumenischen Bewegung der „Arbeitergeschwister“ (früher: „Arbeiterpriester“), die den Berufsalltag mit prekär Beschäftigten teilen. Ende September wird er in
St. Gabriel die ewigen Gelübde ablegen.

Bernd Ruffing SVD
Den Menschen ein Bruder sein

• 2003 trat der im saarländischen Ottweiler geborene Missionar in den Steyler Orden ein. Warum ausgerechnet dort? „Weil ich dachte, dass dort alles möglich sei und ich meinen Platz finden werde.“ Priester zu werden, reizte ihn nicht: „Ich wollte immer mit den Händen predigen.“
• Der gelernte Krankenpfleger und Diplom-Pflegepädagoge lebte drei Jahre in Thailand, wo er in einem Steyler Projekt mit HIV-infizierten Menschen arbeitete. Eine Aufgabe, die ihn sehr erfüllte.
• Nach seiner Rückkehr 2016 ging er nach Berlin, wo er sich in einer psychosozialen Beratungsstelle der
Caritas um psychisch belastete und traumatisierte Geflüchtete kümmerte, bis das Projekt beendet wurde.
• Inzwischen arbeitet er als Krankenhausseelsorger. Zuständig ist er außerdem für den Steyler Internationalen Freiwilligendienst „Missionar/in auf Zeit (MaZ)“.

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