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14. Sep 2023
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse geben Einblick in das problematische Verhältnis des Steyler Missionars und Anthropologen P. Martin Gusinde zum Nationalsozialismus.
Seine Forschungsreisen zu den von ihm so genannten „Feuerland-Indianern“ an der Südspitze Südamerikas machten P. Martin Gusinde SVD als Anthropologen berühmt. Weniger bekannt war bisher die opportunistische Haltung des Steyler Missionars und Wissenschaftlers gegenüber dem Nationalsozialismus und seine Beteiligung an „rassenbiologischen Forschungen“ an Kriegsgefangenen. Bei einem Vortrag im Missionshaus St. Gabriel stellte Peter Rohrbacher vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften seine neuen Forschungserkenntnisse über Martin Gusinde und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus vor. Der Vortrag fand am 8.9. anlässlich des 148. Jahrestages der Gründung der „Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ (SVD) statt.
Anhand einiger exemplarischer Beispiele führte Rohrbacher den Zuhörerinnen und Zuhörern vor Augen, wie Gusinde mit den Nationalsozialisten kollaborierte, um seine akademische Karriere voranzutreiben und öffentliche Anerkennung zu erhalten. Denn ganz im Gegenteil zu Gusindes lückenhafter Eigensicht – „Während der Nazi-Zeit hielt ich mich still, zeitweilig gut versteckt“ –, die er bei einem Festakt anlässlich seines 80. Geburtstages äußerte, hatte der Anthropologe in der NS-Zeit sehr viel publiziert.
Peter Rohrbacher stützt seine Erkenntnisse auf eine Fülle von Briefen und anderen Quellen, die im Archiv der Akademie der Wissenschaften und im SVD-Archiv im Generalat in Rom aufbewahrt werden.
So beweisen Briefe Gusindes, dass er beabsichtigte, sein zentrales Werk „Anthropologie der Feuerland-Indianer“ (1939) „Reichsmarschall“ Hermann Göring persönlich zu widmen, sollte ihn dieser bei der Finanzierung des Drucks unterstützen. Eine Tatsache, die bisher in der Forschung ebenso unbekannt war, wie die schriftliche Loyalitätserklärung Gusindes gegenüber dem NS-Staat, die für seine Bestrebungen erforderlich war, sich an der Theologischen Fakultät der Universität Wien zu habilitieren. Darin schreibt er u.a. wörtlich: „Die bestehende nationalsozialistische Staatsform erkenne ich rückhaltlos an und füge mich ihr ohne Einschränkung.“ Das Schreiben schließt er mit „Mit deutschem Gruss Heil Hitler“. „Die Erklärung fiel von der Gesinnung her so eindeutig aus, dass sogar der Dekan der Katholischen Fakultät irritiert war“, betonte Rohrbacher.
Der opportunistischen Einstellung Gusindes stellte Rohrbacher in seinem Vortrag die Haltung der damaligen SVD-Ordensleitung gegenüber. Generalsuperior P. Josef Grendel SVD, der in der katholischen Kirche eine wichtige Rolle im Abwehrkampf gegen das NS-Regime spielte, verhinderte durch sein Einschreiten die Habilitation Gusindes und setzte sich damit auch gegen den ausdrücklichen Wunsch Kardinal Innitzers durch. Auch Provinzial P. Alois Große Kappenberg lehnte Gusindes Habilitation ab, „weil sie für ihn eine Kollaboration mit dem NS-Staat bedeutet hätte, die eine Kompromittierung und sogar Gefährdung des gesamten Ordens hätte nach sich ziehen können“, erklärte Rohrbacher.
Aber bereits davor war Pater Gusinde ein „beschriebenes Blatt“ aus Sicht der Ordensleitung. Vor allem seine Beschäftigung mit der „physischen Anatomie“, der Vermessungen und Beschreibungen auch von (nackten) weiblichen Körpern zugrunde lagen, stießen bei den Ordensoberen sowie bei Wilhelm Schmidt SVD, dem Begründer der Schule der Wiener Ethnologie und des Anthropos-Institutes, auf Ablehnung. Sie vertraten die Ansicht, dass Messungen an lebenden Menschen nicht Aufgabe eines Priesters seien und hegten die Sorge, dass die Nationalsozialisten daraus Profit schlagen könnten, dass ein Priester sich um solche Dinge kümmert, wie Peter Rohrbacher erläuterte.
Das dritte Fallbeispiel, das Rohrbacher bei seinem Vortrag in St. Gabriel anführte, betrifft Martin Gusindes Mitwirken an der Kriegsgefangenenforschung, die ordensintern massiv verurteilt wurde. Zwischen 1940 und 1943 führte die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums vier Untersuchungsreihen in Kriegsgefangenenlagern der deutschen Wehrmacht durch. Gusinde war an drei dieser Erhebungen beteiligt, bei denen u.a. Vermessungen an afrikanischen Kriegsgefangenen durchgeführt wurden. „Gusinde hat diese rassenbiologischen Forschungen nicht mit der Ordensleitung abgestimmt. Erst 1943 flog seine Mitwirkung daran zufällig auf“, so Rohrbacher. Gusindes Darstellung in einem Schreiben an die Ordensleitung, wonach sich Kriegsgefangene ohne Zwang, also „freiwillig“ untersuchen ließen, entsprach nicht den Tatsachen, betonte Rohrbacher.
Der Generalsuperior instruierte den Provinzial, Gusinde die Teilnahme an den Arbeiten zu verbieten, doch kam das Schreiben des Generalsuperiors aufgrund der Kriegswirren erst zu einem Zeitpunkt an, als die rassenbiologischen Untersuchungsreihen in den Kriegsgefangenenlagern längst abgeschlossen waren.
Pater Gusindes opportunistische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus sieht Rohrbacher u.a. darin begründet, dass dem Steyler Missionar ordensintern die wissenschaftliche Anerkennung verwehrt blieb, und er sie auf diesem Weg erreichen wollte.
Ausschlaggebend für seine Außenseiterrolle im Orden und seine problematische Entwicklung waren wohl Gusindes Konflikte mit seinen Mitbrüdern und Anthropologen-Kollegen P. Wilhelm Koppers SVD und P. Paul Schebesta SVD, seine Ablehnung der von P. Wilhelm Schmidt propagierten „Kulturkreislehre“ und seine wissenschaftliche Fixierung auf damals gängige rassenbiologische Forschungen, sowie schließlich sein Austritt aus dem Anthropos-Institut.
„Peter Rohrbachers Forschungsergebnisse in Bezug auf Martin Gusinde und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus waren für uns neu. Es ist erschreckend, wozu der übertriebene wissenschaftliche Ehrgeiz bei Gusinde führte, der mit seinen Feuerland-Studien zweifellos auch Bleibendes für die Anthropologie geleistet hat“, erklärte Rektor P. Franz Helm SVD, der zu dem Vortrag von Peter Rohrbacher nach St. Gabriel eingeladen hatte. Der Vortrag über Martin Gusinde war der dritte einer Reihe über die Steyler Ethnologen und Anthropologen.
Text: Ursula Mauritz
Fotos: Franz Helm SVD, Ursula Mauritz, SVD